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Nachlese: Aufwachen, bevor es wieder finster wird

Lesedauer 24 Minuten

Mit Othmar Karas (Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments), Michel Friedman (Jurist und Publizist), Cathrin Kahlweit (Korrespondentin für Mittel- und Osteuropa der Süddeutschen Zeitung), Hedwig Richter (Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München), Bartosz T. Wieliński (Stellvertretender Chefredakteur der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza)

Podiumsdiskussion mit Begrüßung durch Burgtheaterdirektor Martin Kušej am 10. September 2023 im Burgtheater.
 

Podiumsdiskussion "Aufwachen, bevor es wieder finster wird"
© Marcella Ruiz Cruz

TIPP
Die Podiumsdiskussion zum Auftakt der Spielzeit 2023/24 wurde auch in voller Länge aufgezeichnet.

Podiumsdiskussion "Aufwachen, bevor es wieder finster wird"
Martin Kušej
© Marcella Ruiz Cruz

Begrüßung

Wenn Sie aktuell durch Wien gehen, wird Ihnen unsere Spielzeitkampagne zum Thema „Nein zu Faschismus, Nein zur Neuen Rechten“ kaum entgehen können. Auch unser Spielplan in der aktuellen Saison orientiert sich daran. Wir haben im Lauf des letzten Jahres drastisch erlebt, dass unser Theater, unsere Kunst, in den Fokus einer gewaltbereiten, antidemokratischen, identitären Ideologie geraten ist.

Monatelang sind wir im Fokus von Rechtsextremen und Querdenkern gestanden, die gemeinsam am Burgtheater vorbei- oder aufmarschiert sind und ihr Protest ist mehr als einmal ausgeartet in Beschimpfungen, Plakat- und Schmieraktionen – von den Drohungen und den Bepöbelungen in den sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Das hat uns sehr beunruhigt und zum Nachdenken gebracht. Man muss blind sein, um nicht zu erkennen, was hier bedrohlich aus dem noch fruchtbaren Schoß kriecht.

Unsere feste Überzeugung, dass eine Politik des Ausgleichs und der Toleranz zumindest im geeinten und geläuterten Europa eine unverrückbare Größe, ein gemeinsamer Wert, ein gemeinsames Gut wäre, wird massiv infrage gestellt. Autoritarismus wird als illiberale Demokratie salonfähig, Verachtung von Minderheiten als neue Ordnung mit traditionellen Werten verkauft. Es ist geradezu atemberaubend, wie diese Feinde der Demokratie die Polykrise aus Pandemie, russischem Angriffskrieg, Klimakatastrophe und Teuerung so einfach für ihre Propaganda der neuen Angst und der alten Worte zu nutzen wissen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal noch oder wieder hier stehen muss, um unsere Werte der Freiheit und der Kunst, des Humanismus und der Toleranz zu beschwören.

Nein, das Theater ist nicht die Elite, gegen die hier die sogenannten Normalen aufhetzen; wir sind eben nicht „die Burg“, sondern ein Open Space, ein Ort der Mitte und ein Platz für alle Menschen und Meinungen, solange sie uns nicht direkt gefährden. Diese Tendenz der Gefährdung erkennen wir deutlich und darüber wollen wir zum Auftakt der Spielzeit 2023/24 im Rahmen einer Matinee im Burgtheater reden.

MARTIN KUŠEJ

Podiumsdiskussion

CATHRIN KAHLWEIT Obwohl die liberale Demokratie auf Konfrontation, Diskussion und Angebote der Parteien ausgelegt ist, scheint es zurzeit so zu sein, als wenn die Debatte mit der AfD, der FPÖ und wahlweise anderen rechtspopulistischen Parteien seltsam feige, vorsichtig, man kann auch sagen opportunistisch geführt wird. Warum das so ist und wo unsere Verantwortung liegt, darüber wollen wir heute diskutieren. Denn es ist ganz klar, dass die etablierten Parteien Angebote machen und Lücken füllen müssen, weil sich ein großer Teil der Wähler in Deutschland und in Österreich – mittlerweile fast 30 Prozent – von diesen Angeboten der Rechtspopulisten und der Rechtsextremen angezogen fühlt. In der Publizistik kursiert der Begriff der „Neuen Rechten“ oder der „Radikalen Rechten“. Gemeint ist damit in der Regel eine toxische Mischung aus Rechtsradikalismus und Ex-Rechtsextremismus, der mit seinen ideologischen Überschneidungen und seinen taktischen Kooperationen zurzeit im Gespräch ist und Furore macht. Wie lassen sich die „Neuen Rechten“ charakterisieren, welche Merkmale weisen sie auf?

Wenn die Regierungen nicht adäquat auf das Klima-Desaster reagieren, wird es in jedem Fall den Populisten in die Hände spielen.

HEDWIG RICHTER Ich finde wesentlich, dass sie sich der Zukunft verweigern beziehungsweise darüber gar nicht reden, was auch sehr stark damit zusammenhängt, dass sie anti-liberaldemokratisch sind. Ich finde diesen Unterschied sehr wichtig. Sie bezeichnen sich selber als demokratisch, weil sie sagen, dass sie die Mehrheit sind, und meiner Meinung nach muss man das ernst nehmen. Demokratien haben immer die Versuchung zum Populismus. Aber unsere Demokratie lebt von Checks and Balances, sie lebt vom Rechtsstaat. Deswegen schimpfen sie auf das Parlament, auf Eliten, auf den Rechtsstaat und auf internationale Zusammenarbeit. Aber all das ist ganz wesentlich für unsere liberale Demokratie. Auch Eliten übrigens. Ausschlaggebend ist, dass die Populisten versprechen, dass man sich nicht ändern und nicht an die Zukunft denken muss. Aber dieses „Ihr müsst euch nicht ändern“ ist eine ganz starke Botschaft in dieser Zeit, in der wir uns massiv ändern müssen. Aufgrund des Klimawandels muss sich die Bevölkerung ändern und deswegen ist es ganz fatal, dass die anderen Parteien mit großer Angst und Feigheit reagieren, anstatt zu sagen, dass wir jetzt eine klare, ordnungspolitische Antwort finden müssen. Wenn die Regierungen nicht adäquat auf das Klima-Desaster reagieren, wird es in jedem Fall den Populisten in die Hände spielen.

Ich will Freiheit. Ich liebe sie. Sie auch? Dann kommen Sie.

OTHMAR KARAS Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich einmal Demokratie definieren müsste. Weil ich in einer Zeit aufgewachsen bin, in der die Demokratie der Grundkonsens war. Die Lehre aus den Fehlern der Geschichte. Und auf einmal müssen wir unterscheiden zwischen liberaler und illiberaler Demokratie, weil die liberale Demokratie schleichend durch eine autoritäre Entwicklung missbraucht wird. Deswegen geht es um die Definition der liberalen Demokratie und diese ist eine parlamentarische Demokratie. Sie ist eine Demokratie des Kompromisses, der Zusammenarbeit, der Akzeptanz von Werten, des Respekts im Umgang miteinander. Sie bedeutet auch Rechtsstaatlichkeit. Das ist eigentlich die europäische Idee. Die Rechtspopulisten und Rechtsextremen aber wollen keine Lösung der Probleme. Sie wollen den Konflikt, sie wollen die Polarisierung, sie wollen die Spaltung, sie wollen das Chaos, sie wollen den Protest. Und daher sind sie antieuropäisch und antidemokratisch. Sie missbrauchen den Rechtsstaat, um ihre autoritären Systeme „demokratisch“ zu schaffen. Deswegen sitzen die AfD und die FPÖ, die manchmal bei uns in den Diskussionen unterschieden werden, in der gemeinsamen Fraktion. Ihre anti-europäische, anti-multinationale, anti-multilaterale Gesinnung drückt sich dadurch am besten aus. Sie nehmen nie teil an der Suche nach gemeinsamen Lösungen.

In dem Moment, in dem jemand sagt, „einige sind niemand“, verlässt er den Boden des Grundgesetzes, denn wenn einige niemand sind, dann ist die Würde des Menschen angetastet und damit die demokratische Idee an sich verloren gegangen.

MICHEL FRIEDMAN Man muss feststellen, dass wir in der Tat die Demokratie als so gegeben und selbstverständlich gelebt haben, als ob sie es in sich selbst auch wäre. Über die Säulen sind wir uns im Klaren, den Rechtsstaat, das Parlament und die Exekutive. Aber über demokratische Partizipationsformen und viele andere Dinge wurde nicht verhandelt. 
George Tabori hat den Artikel 1 des Grundgesetzes übertragen mit dem Satz: „Jeder ist jemand.“ Das bedeutet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir machen es uns manchmal sehr kompliziert, zu definieren, wer denn jetzt rechtsradikal ist. Für mich ist das ganz einfach: In dem Moment, in dem jemand sagt, „einige sind niemand“, verlässt er den Boden des Grundgesetzes, denn wenn einige niemand sind, dann ist die Würde des Menschen angetastet und damit die demokratische Idee an sich verloren gegangen.
Ich bin verwundert, dass einige so verwundert sind, dass rechtsradikale Parteien jetzt politikrelevant geworden sind. Wir sitzen hier nur deshalb, weil sie politikrelevant sind. Die Zerstörung haben sie immer schon durchgeführt. Und wer schwarz, wer jüdisch, wer schwul war, hat – auch bevor die FPÖ in dieser Regierung war – in diesem und in anderen Ländern sehr in Gefahr gelebt.

CATHRIN KAHLWEIT Frau Richter, Sie sind auch eine Expertin für die NS-Zeit, genauso wie Herr Wieliński. Sind die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts als Vorboten für das, was danach kam, vergleichbar mit der Zeit jetzt? Ist das hysterisch? Ist das untauglich als Vergleich?

Podiumsdiskussion "Aufwachen, bevor es wieder finster wird"
Hedwig Richter
© Marcella Ruiz Cruz

HEDWIG RICHTER Vergleichen kann man immer alles, aber ich finde, dass dieser Vergleich in die Irre führt. Wenn wir diese Vergleiche ziehen, übersehen wir, wie stabil unsere Demokratien heute sind. Wir übersehen das ganz große Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, nämlich die Klimawende, die zu einem ganz anderen Chaos führen kann, wenn wir nicht reagieren. Wir übersehen, dass wir eigentlich gut ausgerüstet sind, um die Probleme anzugehen. Die Demokratien könnten damit umgehen und ich sehe ein massives Problem darin, dass wir durch den Vergleich mit der Weimarer Republik Probleme evozieren, die gar nicht da sind, und dadurch andere Probleme aus den Augen verlieren. Die Diskurse, dass es keine Mitte gäbe oder die Mitte bröckelt, das stimmt für Deutschland nicht, das zeigen ganz viele Untersuchungen. Wir übersehen hier total, wie antisemitisch die deutsche und österreichische Gesellschaft in den fünfziger Jahren war. Wir schaffen in diesen Krisendiskussionen ein romantisches Bild davon, wie Demokratien früher gewesen sind. Das waren sehr autoritäre Gesellschaften in den fünfziger und sechziger Jahren. Und das Misstrauen gegenüber der Demokratie hat viele Ursachen, aber es ist auch ein Mündig-Werden der Bürgerinnen und Bürger, das Ende der sechziger Jahre eingesetzt hat.

MICHEL FRIEDMAN Ich möchte ihre Position gerne ein bisschen konterkarieren. Sie haben gesagt, noch seien unsere Demokratien stabil, aber ich weiß nicht, von welchen Ländern Sie da ausgehen. In Ungarn gibt es keine stabile Demokratie mehr, sie wird abgebaut. Die gesamte Medienwelt wird uniformiert, wie in Polen wird versucht, die gesamte Justiz umzubauen und damit zum Diener der Exekutive zu machen, was auch zum Ende demokratischer Strukturen führt. In Schweden erleben wir ähnliche Symptome. Italien versucht auch relativ autoritär, die Säulen der Demokratie umzuwandeln. Ich widerspreche Ihnen insofern, als dass wir differenzieren müssen, wenn wir von einem „Wir“ reden. Unter Trump ist der Verlust des Demokratischen so weit gegangen, dass ein Präsident zum Sturm des Kapitols aufgerufen hat. Wir erkennen darin den Zusammenbruch von demokratischer Sicherheit und Struktur.

Am Ende erfolgt der autoritäre Abbau des Staates durch Gewalt, Verbrechen und Massenmord. Was Putin in der Ukraine erreicht hat, werden vielleicht bald die Türken erreichen und Polen und Ungarn befinden sich auf dem gleichen Pfad.

BARTOSZ T. WIELIŃSKI Ich kann mich noch an den ersten Schock erinnern, den ich nach den Wahlen 2015 erlebt habe, als die PiS erstmals die Wahlen gewann. Es gab eine große Diskussion im Parlament. Einer der Abgeordneten hielt eine Rede und sagte im Parlament, dass der Wille des Volkes wichtiger sei als das Recht. Ich war erstaunt. Die PiS-Abgeordneten applaudierten sofort, weil sie glaubten, eine Mehrheit erreicht zu haben und den Glauben des Volkes zu verkörpern. Aber das war eigentlich fast ein Nazi-Slogan. Was später in Polen passierte, kam einer Gleichschaltungspolitik – in der Justiz, in den öffentlichen Medien, gegenüber Minderheiten und unabhängig denkenden Menschen – sehr nahe. Das erinnerte an die Goebbel’sche Politik gegenüber Künstlern und Journalisten im Dritten Reich. Selbstverständlich ist der Unterschied zwischen Polen und der Weimarer Republik der, dass die Weimarer Republik fast keine Verteidiger hatte, während in Polen tausende Menschen auf die Straße gehen, so wie in Israel, wo jede Woche tausende Leute demonstrieren. Aber das Prinzip ist ja gleich.
Um diese Vergleiche zum Nationalsozialismus zu vermeiden, würde ich gerne ein anderes Konzept vorschlagen: Schauen wir auf Russland, wie dort die Demokratie abgebaut wurde. Was war der Weg von Putin? Und wohin hat ihn dieser Weg geführt? Orbán ist auf diesem Weg viel weiter als Kaczyński, auch Erdoğan hat sich schnell in diese Richtung bewegt. Am Ende erfolgt der autoritäre Abbau des Staates durch Gewalt, Verbrechen und Massenmord. Was Putin in der Ukraine erreicht hat, werden vielleicht bald die Türken erreichen und Polen und Ungarn befinden sich auf dem gleichen Pfad. Die ersten Opfer des Regimes in Polen waren die unabhängigen Richter und Journalisten. Die Journalisten wurden entweder totgeschwiegen, entlassen, mit Berufsverboten belegt oder ermordet. Die Richter wurden zum Gehorsam gezwungen oder aus dem Beruf entlassen. Ich gebe Herrn Karas Recht, Populisten suchen nach Konflikt, Polarisierung und wollen einen Krieg in der Gesellschaft antreiben und aufrechterhalten, um zu regieren. Das passiert in Russland, in der Türkei, in Polen und in Ungarn.

CATHRIN KAHLWEIT Herr Karas, die Propaganda gegen Flüchtlinge und die Anlehnung an die zerstörerischen Modelle in Polen und Ungarn bringen mich unmittelbar nach Österreich. Die FPÖ hat sich in den letzten Jahren unter Kickl immer weiter radikalisiert, trotzdem regiert die ÖVP in drei Bundesländern mit der FPÖ. Die Identitären sind das Unterfutter der FPÖ. Es gibt Kooperationen, gemeinsame Märsche, gemeinsame Erklärungen. Warum ist das den 30 Prozent der Wähler*innen, die laut Umfragen sagen, sie würden für die FPÖ stimmen, wenn nächsten Sonntag Wahlen wären, scheinbar egal?

Ich sehe auf europäischer Ebene, dass der Grundkonsens und der Wille zur Zusammenarbeit bröckelt.

OTHMAR KARAS Zur Einleitung muss ich schon sehr deutlich sagen, dass ich die Koalition mit der FPÖ nicht begrüßt, sondern abgelehnt habe, weil man aus meiner Sicht Herrn Kickl nicht von der FPÖ unterscheiden kann. Es geht um die Grundlagen der Politik: In der FPÖ gibt es keine Auseinandersetzung mit der Einhaltung der Menschenrechtskonvention, mit der Würde des Menschen. Daher ist die FPÖ für mich nicht an einer Person festzumachen, sondern stellt eine Geisteshaltung, eine Strategie dar, die die ganze Partei betrifft, innerhalb der es keine Debatte gibt. Zum Zweiten: Der Erfolg der FPÖ hängt mit dem fehlerhaften Umgang mit Problemen, mit dem Protest gegen Transformationsprozesse zusammen. Deshalb bildet sich dieses Amalgam der 30 Prozent.
Ich glaube, dass eine lösungsorientierte Politik, ein neuer Grundkonsens in der Mitte, der sich von links und von rechts abgrenzt, derzeit fehlt. Ich glaube, dass man sich schon seit Jahren in Österreich viel zu wenig mit der Entwicklung der FPÖ und mit deren Politik auseinandersetzt. Es wird eine Verharmlosung der Partei an sich, eine Verharmlosung ihrer Politik und Ziele betrieben. Es gibt – anstatt einer kritischen Auseinandersetzung – eine zu starke Anbiederung. Ich sehe auf europäischer Ebene, dass der Grundkonsens und der Wille zur Zusammenarbeit bröckelt. Weil es einfacher ist, sich nach links und rechts zu orientieren, weil es in vielen Fällen einfacher ist, sich Mehrheiten mit den Rändern zu suchen und weil es schwieriger ist, den Kompromiss in der Mitte zu suchen und in einem staatspolitischen Grundkonsens Fragen zu klären. Das macht mir Sorge und daher geht es um die Suche nach einem neuen Grundkonsens der (Mehrheits-)Parteien. Denn 30 Prozent sind keine Mehrheit, sie werden zu einer Mehrheit gemacht durch das Versagen der anderen.

MICHEL FRIEDMAN Wenn wir das Thema substanziell diskutieren wollen – für Deutschland und für Österreich – müssen wir als Erstes feststellen, dass seit der Befreiung Nazis, Neonazis, Antisemiten und Rassisten in unseren Ländern nicht nur gelebt haben, sondern auch Teil der Elitesysteme waren. Der generationenübergreifende traditionelle Antisemitismus und das Antidemokratische spielten immer eine Rolle.
In der Gegenwart verschiebt sich jedoch nicht nur das Rechtsextreme, sondern auch die ÖVP. Die ÖVP koalierte ohne Not mit Herrn Haider, der rassistische Plakate und Statements abgegeben hat, und normalisierte mit dieser Koalition den Gedankenweg, den wir bisher mit bürgerlich-demokratischem Verständnis als rote Linie abgelehnt haben. Und dann wundert man sich über Enthemmungsprozesse, die im Alltag ankommen. Da sind Leute, die sagen, sie wollen das christliche Abendland und die Vertreibung aller Muslime und die Umvolkung. All diese Dinge wurden 2015, 2016 und 2017 von Regierungsvertretern mitten in Europa gesagt! Natürlich infiziert das auch hier wieder Leute, die dem Recht geben! Und mittlerweile ist die Enthemmung, die Schwelle dessen, was gesagt, gelebt und was vertreten werden kann, verschoben. Unser gemeinsames Koordinatensystem ist verschoben.
 

Jetzt. Sonst ist es zu spät. Kümmert euch um Europa!

Podiumsdiskussion "Aufwachen, bevor es wieder finster wird"
Hedwig Richter, Bartosz T. Wieliński
© Marcella Ruiz Cruz

BARTOSZ T. WIELIŃSKI Die Rechtspopulisten haben gelernt, dass es möglich ist, den Rechtsstaat auszuschalten, Macht zu übernehmen und jede Grenze zu überschreiten. Wenn man Kontrolle über das Parlament hat, spielen gute Sitten, Vereinbarungen, Kompromisse keine Rolle mehr. Dann ist alles möglich. Die Rechtspopulisten wollen sich durch Korruption, Missbrauch des Staates und seiner Ressourcen bereichern.
Ich möchte Ihnen etwas sagen: Mobilisiert euch, so früh ihr könnt. Jetzt. Sonst ist es zu spät. Wenn die FPÖ in Österreich regieren wird, werdet ihr keinen ORF haben, keine öffentlich-rechtlichen Medien. Diese werden durch Propagandasendungen ersetzt, in denen die Regierung angepriesen und die Opposition und Andersdenkende verteufelt werden. Wie in Polen und Russland. Und was das Demonstrieren betrifft: In Polen geht die Polizei sehr oft mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Demonstrierende vor. Das Recht zu demonstrieren, wird eingeschränkt sein, wenn die Rechten regierungsfähig werden. Es wird zudem versucht werden, die Schulprogramme zu beeinflussen und traditionelle Werte – etwa in Bezug auf die Rolle der Frau – tiefer zu verankern. Kümmert euch um Europa! Denn ein Land, das von Nationalpopulisten regiert wird, wird von der europäischen Idee abdriften. Das Wichtigste ist, zu protestieren, sich zu wundern und sich zu wehren. Das Schlimmste, was entstehen kann, ist Apathie. Dass sich die Leute in ihren Wohnungen und Häusern verschließen oder sogar das Land verlassen, weil sie das Böse nicht sehen wollen. Aber man muss laut und aktiv sein, um es zu bekämpfen. Früher oder später wird es zur Polarisierung kommen, zu Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Es war ein Fehler der europäischen Politiker, dass der Missbrauch und der Bruch des Rechtsstaates in Polen so lange geduldet wurden.

Das Interessante an der Klimakatastrophe ist ja, dass wir ziemlich genau wissen, was passieren wird, wenn wir nichts machen. Und wir wissen auch, dass wir viel zu wenig machen.

HEDWIG RICHTER Ich finde sehr beeindruckend, was Herr Wieliński darüber gesagt hat, wie wir reagieren sollen. Wenn ich als Demokratiehistorikerin etwas gelernt habe, dann, wie unwahrscheinlich wichtig Bildung für die Demokratie ist. Auch wenn wir wissen, dass das allein nicht ausreicht, denn viele Gebildete haben Nazis gewählt, die Universitäten waren die ersten Hochburgen der Nazis. Eliten haben damals eine ganz unglückselige Rolle gespielt – wie auch heute oft bei den Populisten. Dann finde ich wichtig, dass man die Menschen wirklich ernst nimmt. Dass man sie nicht als das dumme Volk betrachtet, dem man die Komplexität der Zusammenhänge von Krieg und Klimawandel nicht zumuten kann. Ich finde es ganz wichtig, dass man die Menschen darüber in Kenntnis setzt, was auf uns zukommt. Das Interessante an der Klimakatastrophe ist ja, dass wir ziemlich genau wissen, was passieren wird, wenn wir nichts machen. Und wir wissen auch, dass wir viel zu wenig machen. Wir müssen die Menschen wirklich als mündige Bürger ansprechen und ernst nehmen. Eigentlich müsste das selbstverständlich sein für eine Demokratie. Und dann finde ich schließlich ganz entscheidend, dass wir eine gute Ordnungspolitik haben. Die Politik müsste Visionen haben und die Menschen mitnehmen und davon überzeugen. Es ist ja nicht so, dass die mehrheitliche Bevölkerung rechtsextrem ist und nicht wüsste, worum es beim Klimawandel geht. Es braucht eine Politik, die diese Ziele mit viel Überzeugung umsetzt. In diesen Transformationen stecken ja auch viele Chancen und Freiheiten.

CATHRIN KAHLWEIT Mit Blick von außen: Wird die Brandmauer im Westen halten oder werden wir dem Vorbild Polens und Ungarns folgen?

BARTOSZ T. WIELIŃSKI Ich wünsche Österreich und Deutschland nicht, sich in der gleichen Situation wiederzufinden wie mein Land. Die Grundlage ist, nicht apathisch zu werden. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Es ist normal, dass neue Parteien entstehen, dass es Auseinandersetzungen und Ideenaustausch gibt. Nicht nur im Land, sondern auch zwischen den Ländern. Ich gehe davon aus, dass Länder wie Polen und Ungarn so lange europäische Verträge missbrauchen und verletzen, solange sie von der Europäischen Union nicht hart dafür bestraft werden. Die Union macht sonst keinen Sinn. Sie will Indien und China belehren, aber ist gleichzeitig nicht dazu imstande, selbst etwas durchzusetzen.

Was ist uns Demokratie wirklich noch wert? Zeigen wir unser Gesicht! Wir sind die Zeugen unserer Zeit. Erfüllen wir unsere Aufträge, dann wird es besser.

MICHEL FRIEDMAN Ich würde gerne darauf antworten, was hier in Wien passiert ist und Europa angeht. Als Haider zum ersten Mal in die Regierung kam, gab es eine Demonstration mit hunderttausenden Menschen, die sich gegen diese Koalition gewandt haben. Ich hatte die große Ehre, auf dem Heldenplatz zu sprechen und ich war zutiefst beeindruckt von den demokratischen Aktivitäten und den aktiven Demokraten, die sich da engagiert haben. An den jüngeren Demonstrationen haben nur noch Zehntausende teilgenommen. Das muss man auch immer betrachten, wenn man über Politiker und Politikerinnen schimpft. Letztlich ist die Demokratie das Volk.
Ich wäre dankbar und glücklich, wenn wir dort, wo wir Fehler in unseren Ländern vermuten, nichts anderes tun würden, als friedlich zu demonstrieren – und zwar in Massen. Denn das ist das demokratische Recht, das wir beanspruchen, um zu sagen: „Ich will Freiheit. Ich liebe sie. Sie auch? Dann kommen Sie.“ Wenn wir das aber als Bürger und Bürgerinnen nicht deutlich zeigen, weil wir gelangweilte oder dekadente Demokraten sind, die gar nicht mehr wissen, warum und was Demokratie ist, dann stärken wir die Parteien, die sie vernichten wollen. Wir müssen uns dann irgendwann einmal eingestehen, dass wir das, was wir wollten und liebten, anscheinend nicht genug vertreten haben.
Wir unterhalten uns immer über die Rechtsextremen. Ich würde mich gerne über uns unterhalten. Ich glaube zutiefst daran, dass, wenn eine Mehrheit sich mobilisiert, sich diese Entwicklungen zurückdrängen lassen und Parteien nicht mehr auf die Idee kommen, ihre Macht zu missbrauchen. Diesen Vorwurf richte ich an jeden, auch an mich: Wir sind zu leise. Warum kann Israel das schaffen und Österreich und Deutschland nicht? Was ist uns Demokratie wirklich noch wert? Zeigen wir unser Gesicht! Wir sind die Zeugen unserer Zeit. Erfüllen wir unsere Aufträge, dann wird es besser. Wenn nicht, werden die, die mit Macht gewalttätig und zynisch umgehen, sehr schnell die Strukturen übernehmen. Und dann ist Demonstrieren auch kein demokratisches Freiheitsrecht mehr.

NACHBEMERKUNG

Die Podiumsdiskussion AUFWACHEN, BEVOR ES WIEDER FINSTER WIRD, die hier in Auszügen vorliegt, fand am 10. September 2023 im Rahmen der Spielzeiteröffnung statt. Viele der darin geäußerten Befunde erscheinen mit dem Wissen um die seitherigen politischen Ereignisse in einem neuen und anderen Licht. So haben sich die politischen Verhältnisse in Polen mit der Parlamentswahl am 15. Oktober 2023, die unter historisch hoher Beteiligung stattgefunden hat, grundlegend verändert: Die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist zwar als stimmenstärkste Kraft aus der Wahl hervorgegangen, hat die Mehrheit jedoch an ein breites oppositionelles Bündnis liberaler Parteien verloren. Politische Beobachter*innen betrachten dieses Wahlergebnis als ein Votum gegen den Abbau der Demokratie und erkennen darin einen beispielhaften Beweis, dass das Erstarken des Rechtspopulismus nicht als schicksalhafte Entwicklung hingenommen werden muss. Ein weiteres im Zusammenhang mit der Diskussion bemerkenswertes Ereignis stellt die persönliche Entscheidung von Othmar Karas über seine politische Zukunft dar. Am 12. Oktober 2023 hat Karas bekanntgegeben, bei der kommenden EU-Wahl nicht mehr zu kandidieren. Er begründete diesen Entschluss mit einer klaren Distanzierung von der ÖVP und kritisierte vor allem deren Asyl- und Migrationspolitik offen. Diese jüngsten Entwicklungen entkräften oder relativieren jedoch die in der Diskussion geäußerten Beobachtungen und Befürchtungen keineswegs. Das zeigt sich schon allein an den Reaktionen, die die Eröffnungsmatinee und die Spielzeitkampagne des Burgtheaters unmittelbar ausgelöst haben: So wurde am 20. September 2023 vom FPÖ-Abgeordneten Thomas Spalt eine parlamentarische Anfrage eingebracht, die folgenden Betreff anführt: „Wie demokratiefeindlich ist die Agenda des Burgtheaters?“ Mit einer einfach durchschaubaren, in diesem Fall geradezu absurd anmutenden Strategie wird versucht, Subjekt und Objekt der Kritik zu verkehren. Das Burgtheater selbst bleibt keine Antwort schuldig: Neben den täglich stattfindenden Vorstellungen versammelt auch dieses Magazin vielfältige Stimmen, denen allen an der Aufrechterhaltung eines lebendigen Austauschs und eines kritischen Bewusstseins gelegen ist.

Podiumsdiskussion zum Nachhören
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PODIUMSDISKUSSION "AUFWACHEN, BEVOR ES WIEDER FINSTER WIRD" zum Nachhören

Die Podiumsdiskussion zum Auftakt der Spielzeit 2023/24 in ganzer Länge zum Nachhören.
Magazin #16: Aufstehen

Protokoll: EUROPA IM DISKURS zum Nahostkonflikt

Die erste Ausgabe von EUROPA IN DISKURS in der Spielzeit 2023/24 in ganzer Länge zum Nachlesen. Mit Politikwissenschaftlerin Rula Hardal, Nahostexpertin Gudrun Harrer, Außenminister Alexander Schallenberg und Politikberaterin Dahlia Schei

Warum sollte man so schnell wie möglich erwachsen werden?

Burgtheaterstudio
Im Rahmen der Produktion von Cornelia Funkes HERR DER DIEBE begeben wir uns auf die Suche nach der Antwort, warum man so schnell wie möglich erwachsen werden sollte.

Fragebogen #8: Die Nebenwirkungen

Fragebogen
Wir haben den Journalist, Autor und Podcaster Andreas Sator eingeladen, eine Vorstellung von Jonathan Spectors Stück DIE NEBENWIRKUNGEN zu besuchen – seine Eindrücke teilt er mit uns im Fragebogen.

Schreibweisen #8: Sinfonien des Grauens

Schreibweisen
Wir haben Gerhild Steinbuch gebeten, uns einen Einblick in ihren Schreibprozess für NOSFERATU zu gewähren. Das Stück feiert am 19. Jänner 2024 Premiere im Burgtheater.

Synapsen Arpeggio Forever

Playlist
#7: Playlist: Thomas Köck zum musikalischen Fundament seines Stücks SOLASTALGIA.

Backstage bei DER MENSCHENFEIND

Einblicke in den Produktionsprozess zu Molières DER MENSCHENFEIND, festgehalten von der Fotografin Marcella Ruiz Cruz. Die Inszenierung von Martin Kušej feierte am 18. November 2023 Premiere im Burgtheater.

Die Wissenschaft der Empathie

Was kann Literatur der Welt von heute entgegensetzen? Auszüge aus Nino Haratischwilis Rede anlässlich ihrer Ernennung zur Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Ihre Überschreibung PHÄDRA, IN FLAMMEN sehen Sie im Akademietheater.

Büchners Flucht

Fundstück
Robert Walser schildert 1912 Büchners Flucht nach Straßburg. „Die Tragödie der Revolutionäre“, DANTONS TOD, feiert am 16. Dezember Premiere im Burgtheater.

Brief aus... #5 Ohio

Brief aus ...
Der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer teilt in seinem Brief aus dem Bible Belt Erinnerungen und Gedanken an sein Aufwachsen in Ohio und gibt damit den Hinweis auf eine wesentliche Inspirationsquelle seiner Inszenierung KASPAR.

OHMANNOSPHÄRE

Am 15. Dezember feiert Ferdinand Schmalz' Stück HILDENSAGA. EIN KÖNIGINNENDRAMA im Akademietheater Premiere. Für unser Magazin verfasste Ferdinand Schmalz einen Text über die „Mannosphären“ unserer Zeit.
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